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Samstag, 26. Dezember 2015

Helga König: Sonntagsgedanken, 27.12 2015

"Wenn man einen fremden Ort besucht, lohnt ein Gang über den Friedhof und in die älteste Kirche stets, um den "Spirit" des Ortes zu erfassen.“ (H.K)

Als ich diesen Tweet vor einigen Stunden postete, dachte ich an bestimmte Kirchen und Friedhöfe, die ich zwischen Weihnachten und Neujahr im Laufe der letzten Jahrzehnte besucht habe, darunter auch an eine kleine Kirche in Rottach-Egern/Tegernsee und den Friedhof dort, auf dem u.a. die Schriftsteller Ludwig Ganghofer und Ludwig Thoma, der Operntenor Leo Slezak sowie der Maler Olaf Gulbransson begraben liegen. Sie ruhen hier mit unbekannten Menschen gemeinsam auf einem unspektakulären Gottesacker. 

Habe ich den "Spirit" des Ortes erfasst als ich sah, was ich in der Kirche und auf dem Friedhof wahrnahm, trotz oder wegen allem, weshalb die Schickeria sich heutzutage in Rottach-Egern so gerne aufhält? Ich denke schon. Den "Spirit" dort assoziere ich mit dem Wort "Idylle", das ich keineswegs abwertend. sondern neutral nutzen möchte. Idyllen sind beliebt, auch bei der Schickeria, die sich  hier von ihren Lebenslügen erholen möchte.

Orte, die alte Kirchen beherbergen, die dazu noch in Stand gehalten werden, ähnlich wie ihre uralten Friedhöfe, haben eine Zukunft, dass dokumentiert ihre Vergangenheit. Ihre Gegenwart schafft stets die Voraussetzung, dass Zukunft möglich ist. Das erklärt oft den nicht immer astreinen "Spirit" bzw. akzeptiert kommerzielle Komponenten ohne Widerspruch,  gewissermaßen völlig pragmatisch. 

Ich ließ uralte Kirchen und Friedhöfe in Frankreich an meinem geistigen Auge vorüberziehen, die ich zwischen den Jahren besuchte und dachte dabei vor allem an das Grab von Chagall in St. Paul de Vence, dachte an Weihnachtsbäume, Blumenschmuck und das Lichtermeer in alten katholischen Kirchen, die vor 700, mitunter gar vor mehr als 1000 Jahren bereits erbaut worden waren und an die vielen brennenden Kerzen auf den Friedhöfen, die an das "Ewige Leben" der dort Ruhenden erinnern sollen. "Licht. Mehr Licht. Noch mehr Licht..." 

Auch die Jakobskirche in Weimar kam mir in den Sinn. Dort wurden einst Goethe und Christiane Vulpius getraut. Auf dem dazu gehörenden Friedhof ruhen u.a. der Maler Lucas Cranach und der Dichter Friedrich Schiller. Ein Lichtermeer zu Weihnachten gibt es dort allerdings nicht, weil dies bei Protestanten eher unüblich ist. Goethe wünschte sich mehr Licht als er starb. Er wusste warum. "Licht. Mehr Licht. Noch mehr Licht." Man hatte Goethes Wunsch damals so wenig begriffen wie heute. 

Überall in den Kirchen stellt man sich vor, wie die Menschen, deren Gräber man zuvor aufsuchte, einst die Gotteshäuser betraten, dort beteten und um Hilfe baten. Dabei wollen wir nicht so genau wissen, worum sie Gott anflehten, sondern eher, dass es einst offenbar viele demütige Menschen gab, die ihre Grenzen kannten. Diese Menschen sind heute rar geworden und das hat fatale Folgen. Wir wissen es und können nichts tun…außer um Licht flehen. "Licht. Mehr Licht. Noch mehr Licht", für jeden. 

Allen alten Grabfeldern gemeinsam ist, dass man den Toten seit Jahrhunderten mit viel Respekt begegnet, auch jenen, die keinen bekannten Namen tragen. Man erkennt dies daran, dass die Gräber oft viele Jahrhunderte überdauern. So etwas geschieht überall dort, wo man ein gewisses historisches Bewusstsein hat, wenn auch oft nur im Hinblick auf die eigene Familie und  deshalb Tote nicht einfach bloß als Gebeine "entsorgt" werden. 

Familienruhestätten beherbergen oft Verblichene vieler Generationen. In heutigen Zeiten gilt dies mancherorts  als obsolet, weil der Zugang zur Seele fehlt. Dies ist dem Mangel an Licht geschuldet. 

"Wenn man einen fremden Ort besucht, lohnt ein Gang über den Friedhof und in die älteste Kirche stets, um den "Spirit" des Ortes zu erfassen.", so meine Eingangssentenz.

Gerade vorgestern sah ich einen Gottesacker, auf dem zur Weihnachtszeit kaum Lichter brannten und auf dem es keine uralten Gräber mehr gibt, obschon der Ort weit mehr als 1000 Jahre alt ist. Die Toten werden neuerdings nach 20 Jahren endgültig entsorgt und der alte Altar der dortigen Kirche kann in einem Museum in der nächst größeren Stadt bewundert werden.  

Es ist offenbar ein spezifischer Zeitgeist, der das, was Bedeutung hat, ausschließlich auf das Jetzt fokussiert und allem anderen keinen Wert mehr beimisst. 

Dort, wo dieser Zeitgeist sich manifestiert, finden wir keine liebevoll restaurieren Kirchen und Friedhöfe mehr und müssen den "Spirit" eines Ortes irgendwie anders erfassen, wenn wir ihn nicht unüberlegt spontan als seelenlos abtun möchten. 

Wir spüren eine unsägliche Trauer und wissen, dass ist das Ergebnis davon, dass man der Anderwelt keinen Raum mehr beimisst. Wir schauen, fühlen und flüstern leise "Licht. Mehr Licht. Noch mehr Licht", wissen um den eigentlichen Mangel unserer Zeit und weinen, weil wir trauern, um wieder lachen und erneut auf Lichtsuche gehen zu können. So sind wir Menschen eben. Unverbesserlich im Hoffen. Unverbesserlich im Vorteilsdenken.

Helga König

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