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Sonntag, 13. Oktober 2019

Sonntagskolumne: Helga König, 13.10. 2019

Die Taschenuhr meines Urgroßvaters war in meinem Elternhaus jahrelang unauffindbar. Mein Vater hatte sie einst von ihm anvertraut bekommen und in Ehren gehalten. In meiner väterlichen Familie ist sie der einzige Gegenstand, der zwei Kriege überstanden hat. Wie man der Gravur entnehmen kann, stammt sie aus dem Jahre 1820. 

Schon der Großvater meines Urgroßvaters, ein Mühlenbesitzer in Böhmen, trug diese Uhr. Ob das täglich geschah oder nur zu sonntäglichen Kirchgängen und an Festtagen, lässt sich nicht mehr feststellen. Unklar auch bleibt, wo er die Uhr erworben hat und weshalb gerade mein Urgroßvater sie von ihm geschenkt bekam und nicht einer seiner der beiden Söhne. 

1820 gehörten die Napoleonischen Kriege bereits dem Gestern an. Goethe reiste ein Jahr später in das böhmische Marienbad zur Kur und verliebte sich 72 jährig in ein über 50 Jahre jüngeres Mädchen. Ob der Besitzer der Holzbachmühle je etwas von dem illustren Gast in Marienbad und dem damit verbundenen Skandal gehört hat, weiß ich nicht, wohl aber, dass mein Urgroßvater die Geschichte kannte, denn er war Baumeister in verschiedenen böhmischen Bädern und dort war der Skandal noch nach Jahrzehnten ein beliebtes Gesprächsthema, das nach wie vor Badegäste aus aller Welt anzuziehen vermochte. Klatsch gehört bekanntermaßen zum Kaffee und Caféhäuser sind ein wesentlicher Bestandteil von Badeorten.

Die Zeiten waren friedlich als mein Urgroßvater jung war, denn er wurde 1871 geboren. In Böhmen gab es seit 1866 keinen Krieg mehr und als der erste Weltkrieg begann, war Hannes bereits in einem Alter, wo er nicht mehr Soldat sein musste. 

Siebzehnjährig zeugte er seinen ältesten Sohn, der im 1. Weltkrieg noch jung an Jahren  auf einem Schlachtfeld in Galizien verstarb.  Die schöne Julia, die Mutter dieses Kindes,  - damals 15 jährig - heiratete den unkonventionellen Hannes  als dieser 21 Jahre alt war und zog später dann insgesamt vier gemeinsame Kinder mit ihm auf. 

Im Alter von 20 Jahren erbaute  Hannes in Böhmen das Haus, in dem seine junge Familie lebte, während er in den Jahren danach oft monatelang aus Berufsgründen nicht zuhause war. Der überdurchschnittlich intelligente, handwerklich begabte Mann wollte dazulernen und wusste, dass dies in den nahe gelegenen Bädern eher möglich war als anderenorts in Böhmen. 

Seine Taschenuhr begleitete ihn auf all seinen Wegen und mit ihr der Schutz seines Großvaters. 

Über den 1. Weltkrieg wurde in meinem Elternhaus selten gesprochen, weil das Leid des 2. Weltkrieges, das meine Familie zu ertragen hatte, die Erinnerungen  an 14/18 restlos überschattete. Nur meine Großmutter, die Tochter von Hannes, sprach davon, weil ihr Mann- mein Großvater väterlicherseits- an den Folgen einer Kriegsverletzung aus besagtem Krieg Mitte 1930 starb. Seine Vorfahren waren französische Hugenotten, die einst nach Böhmen geflüchtet waren. Sie wähnten sich und ihre Nachfahren dort in Sicherheit. Doch die Familiengeschichte beweist, dass man an keinem Ort sicher sein kann.

Von seinem Eisernen Kreuz, mit dem mein Großvater am Balkan ausgezeichnet wurde, konnte meine Großmutter ihre beiden Kinder nicht ernähren. Sie verfluchte den Krieg, der Ursache ihrer materiellen Schwierigkeiten war. 

Gottlob gab es meinen Urgroßvater, der diese Probleme auffing, für den Unterhalt der Familie sorgte und nicht nur das, er bewahrte meinen Vater auch davor, dass er 18 jährig kurz vor Kriegsende als Soldat im Osten verheizt wurde. 

Mein politisch interessierter Urgroßvater hielt von den Nazis nichts. Sie passten nicht in sein weltläufiges Denken. 

Als er, damals 74 jährig, 1945 aus seinem Haus in Böhmen vertrieben wurde, stellte er in einen Handleiterwagen eine verschließbare Kiste mit Dingen, die man für sein tägliches Leben benötigt. 50 kg seiner Habe durfte er mit auf den Weg nach Westen nehmen und zog sie auf diese Weise  hinter sich her. Einen guten Anzug mit weißem Hemd und Krawatte sowie seine Taschenuhr packte er selbstverständlich auch dazu. Er hielt diese Dinge für  sehr wichtig bei einem Neubeginn. 

Im Alter von 82 Jahren baute er letztmals ein Haus und zwar eigenhändig mit diversen Handlangern. In diesem Haus wurde ich geboren und bin meinem, von mir  geliebten Urgroßvater  sehr dankbar  ihn als Kind dort habe täglich erleben dürfen, weil er mich Dinge lehrte, die für mein Leben stets wichtig waren und es noch immer sind. 

Als ich zwei Tage nach dem Tod meiner Mutter zufällig die Taschenuhr bei der Suche nach dem Stammbuch wiederentdeckte, wusste ich, was nun meine Aufgabe ist und habe sie mit Freude angenommen, auch wenn sie  eine Menge Kraft, Zeit und anderes mehr kosten wird.

Dass mein Urgroßvater älter als 90 Jahre wurde, führe ich auf seine Wissbegierde zurück, denn er las noch im hohen Alter von morgens bis abends vor allem das von ihm sehr geschätzte "Darmstädter Echo" und die Wochenzeitschrift  "Der Spiegel", um mit anderen weitaus jüngeren Männern angeregt diskutieren zu können..

Helga König

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