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Freitag, 19. April 2019

Helga König, Sonntagskolumne 21.4. 2019

#André_Niedostadek twitterte am 16. April nachstehende Sätze: "Was diese Tür in #Halberstadt vielleicht alles für Geschichten erzählen könnte?! Von all den Leuten, die über die Türschwelle gegangen sind. Von Freude und Leid. // Licht und Schatten liegen oft nahe beieinander. An diesem sonnigen Morgen zeigt sich das eindrucksvoll ..." und postete dazu das Foto, das ich in meine heutige Kolumne eingebunden habe. 

Diese Tür macht neugierig, weil von innen offenbar irgendwann Holzbretter angenagelt wurden, um sie zu stabilisieren oder den Haupteingang des unbewohnten Hauses vor Einbrechern zu sichern. Das Glas in den kleinen Fensterchen ganz oben scheint nicht mehr vorhanden zu sein. Man hat es nicht erneuert. Weshalb nicht?

Die beiden Klingeln rechts deuten darauf hin, dass dort zumindest bis vor einiger Zeit noch Menschen gewohnt haben, auch das Bks-Schloss gut eine halbe Armlänge oberhalb des uralten Schlosses unter dem Türgriff sagt dies aus. Ob es sich um ein Fachwerkhaus handelt, kann man nur vermuten. Die Türschwelle aus Holz, sieht ganz danach aus. Weshalb ist dieses Haus noch nicht saniert worden?

 Foto: André Nidostadek
Halberstadt gilt als das Tor zum Harz. Der Ort ist weit mehr als tausend Jahre alt und war einst der Hanse angeschlossen, d. h. dieser Handelsplatz war demnach recht wohlhabend. Die Innenstadt wurde zu Ende des 2. Weltkriegs zu 80% zerstört, konnte ich Wikipedia* entnehmen und auch, dass die Fachwerkhäuser in der Altstadt, die die Bombenangriffe überlebt hatten, zu DDR-Zeiten dem Verfall preisgegeben wurden. Das dürfte auch das Schicksal des hier fokussierten Hauses gewesen sein. Ab 1990 dann wurde die Altstadt restauriert, allerdings scheint dieser Vorgang noch nicht abgeschlossen zu sein. 

Die Tür des Hauses, das André Niedostadek fotografiert hat, lässt vermuten, dass hier noch viel investiert werden muss. Vielleicht streitet sich eine Erbengemeinschaft, die weit verstreut an anderen Orten lebt oder der Eigentümer ärgert sich, dass das Gebäude unter Denkmalschutz steht, er eigentlich ein modernes Haus auf das Grundstück errichten wollte und sich nun mit dem Haus seiner Vorfahren  befassen soll, das ihn der Erinnerungen wegen geradezu erdrückt. 

Die beiden Klingeln lassen vermuten, dass das Haus maximal drei, vermutlich nur zwei Stockwerke hat. Ein Patrizierhaus aus der alten Hansezeit scheint es demnach nicht zu sein, denn dann wäre die Eingangstür breiter, wohl aber ein Haus von Halberstädter Bürgern, die seit Generationen dort lebten. Waren es vielleicht Halberstädter Juden? 

Seit Mitte des 13. Jahrhunderts haben sich immer wieder Juden in Halberstadt angesiedelt und dort Pogrome erlitten, sind vertrieben worden und sind, wenn es die politische Situation erlaubte, wiedergekommen, erfährt man auf der Website mit dem Titel "Juden im alten Halberstadt". 

Zu Beginn der Naziszeit gab es noch 706 Juden in der Stadt, die dort ihren Lebensunterhalt erarbeitet haben, 1939 waren es noch 239 Personen. 1938 schoben die Nazis einen großen Teil der aus Polen zugewanderten Juden in das Gebiet vor der polnischen Grenze ab. 1942 war das Todesjahr der noch in Halberstadt verbliebenen Juden. Sie wurden nach Warschau und Auschwitz deportiert. Keiner von ihnen also ist zurückgekommen.**  

Wenn das Haus einer jüdischen Familie gehört hat, die 1942  nach Auschwitz deportiert und dort ermordet wurde, später dann in DDR-Zeiten von Menschen bewohnt war, die nach der Wende ihre Koffer packten und in den Westen gingen, könnte es auch durchaus sein, dass die Verwandten der rechtmäßigen jüdischen Eigentümer vor Kurzem erst ermittelt werden konnten und die Sanierungsarbeiten erst in den kommenden Jahren machbar sind, weil tausend Behördengänge davorstehen, die  alles andere als zum kreativen Tun  motivieren. 

Wem auch immer das Haus gehört haben mag, es steht heute offenbar leer. Die Tür führt demnach in Räume, die unzählige Erinnerungen in sich bergen. Es ist Geisterhaus, das Vorübergehende leise ruft, um deren Neugierde  zu wecken.

Gespräche längst vergangener Zeiten, nicht nur Liebesgeflüster, auch Streit, Versöhnungen,  Existenzängste, Freude, wenn Dinge glückten,  zudem immer wieder Tränen und Trauer, all das hat dieses Haus gespeichert. Es gleicht einer Therapie, wenn es jetzt eine Zeit lang unbewohnt, die Vergangenheit ausatmen kann. 

Sensible Menschen spüren das und fühlen auch, wenn es Zeit wird, das Gebäude zu erneuern, ihm sein altes Gesicht aber zu lassen, es dabei mit dem Zeitgeist von Morgen zu versöhnen und sich darüber zu freuen, dass man  es retten kann.

Häuser haben eine Seele. Das sollte man sich bewusst machen.

Helga König

* Wikipedia Halberstadt

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