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Sonntag, 25. September 2016

Helga König: Sonntagsgedanken, 25.9.2016


Gestern feierte mein ostpreußischer Onkel seinen 93. Geburtstag. Weil fast alle sich freuen, wenn sie einen hochbetagten Menschen sehen, der noch unglaublich jung erscheint, habe ich ein Geburtstagsbild von ihm in die sozialen Netzwerke gestellt und nicht vergessen, darauf hinzuweisen, dass er ein gut gelaunter Weinfreund ist. Er trinkt immer noch 1- 2 Gläser Wein am Tag. Dies scheint eines der Geheimnisse seines langen Lebens zu sein. 

Meine ostpreußischen Verwandten haben es ihm zu verdanken, dass sie sich 1946 in Hessen niederlassen konnten und nicht in dem damals durch die Sowjets besetzten Mecklenburg-Vorpommern weiterleben mussten, wo sie nach der Vertreibung vorübergehend eine Bleibe gefunden hatten. 

Mein Onkel sollte ursprünglich in der Nähe von Allenstein als ältester Sohn den Bauernhof seiner Eltern übernehmen. Dann kam alles anders. Er absolvierte beim Militär eine Ausbildung zum Flugzeugmechaniker und überlebte auf diese Weise die Schrecken des Krieges, weil er nicht an die Front musste. Anschließend arbeitete er bei den Amerikanern in seinem neuen Beruf, lernte dort Englisch und heuerte irgendwann bei einer britischen Chemiefirma an. Er ging nach England, ließ sich für sein neues Betätigungsfeld ausbilden und wurde Betriebsleiter des Chemiewerkes in Deutschland. Der intelligente Tüftler nannte sich stets tiefstapelnd "Mädchen für alles". 

Als er in Pension ging, wurde er Hobby-Biobauer und unternahm zwei Jahrzehnte hindurch viele Reisen durch Europa.

Eine solch bemerkenswerte Vita findet man heute eher selten, weil Lebenswege vorgezeichnet sind durch Ausbildungswege, die unbedingt beschritten werden müssen, um bestimmte Ziele zu erreichen. Quereinstiege werden zwar besungen aber letztlich beargwöhnt, weil nicht sein kann, was nicht sein darf.

Als Kind fand ich es faszinierend, wenn mein Onkel in seiner Freizeit Bäume veredelte und man Pflaumen, Mirabellen sowie Reineclauden auf einem Baum pflücken konnte. Das schien mir wie ein Wunder.  Das Paradies war hier und nicht irgendwo.

In seiner Zeit als Betriebsleiter des Chemiewerkes züchtete mein Onkel ganz nebenbei Kaninchen, auch ausgefallenes Federvieh und verlor auf diese Weise nie die Bodenhaftung. Er fütterte Tiere, pflanzte Bäume und Sträucher, schraubte und bastelte in seiner Freizeit. Unvorstellbar für die meisten Menschen, die sich heute in einer leitenden Funktion befinden! 

Aufgrund seines Könnens, seiner Einsatzbereitschaft und seiner Persönlichkeit wurde der freundliche Ostpreuße von seinen Mitarbeitern sehr geschätzt und wird noch heute von seinen Verwandten geliebt.

Immer wieder lese ich im Internet, dass Manager neue Wege suchen, um sinnstiftend führen zu können. Dann muss sich an meinen Onkel denken, der glaubwürdig auf Augenhöhe entspannt führte und von allen dafür sehr anerkannt wurde. 

Bodenhaftung scheint das Wichtigste zu sein, was ein Mensch bewahren muss, wenn er ohne autoritär zu sein als Autorität gelten möchte. 

Vielleicht sollte man Führungsleuten in der Freizeit mehr Garten- oder Feldarbeit empfehlen, um den Zugang zur Natur und zum Leben nicht zu verlieren. Wer besagten Zugang hat, findet immer einen Weg.

Helga König

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